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Samstag, 27. Juli 2019

Pack die Ellbogen ein - Diabetes ist kein Wettbewerb!


Hallo!

Ich hoffe, euch geht es gut. Trinkt bitte viel, und achtet bei der Hitze gut auf euch! Das heutige Thema schließt sich ein Bisschen an meinen letzten Text an, irgendwie ähnlich, irgendwie anders, aber offenbar kann ich das alles nicht oft genug aufgreifen.

Ich werde auch nicht müde diese Themen zu besprechen, denn: Ihr könnt die Ellbogen jetzt endlich einpacken! Wir schreiben das Jahr 2019 und es ist allerhöchste Zeit, dass wir unsere eigenen Erfahrungen nicht mehr über die von anderen stellen und keinen verdammten Wettbewerb aus dem Leben mit einer Krankheit machen!

- Wie immer spreche ich hier von meinen persönlichen Erfahrungen, die ich hier im deutschsprachigen Raum mit der Community mache. Ich versuche diese Erfahrungen zu analysieren, zu reflektieren und mir einen Reim daraus zu machen. Ich kann nicht von anderen Communities sprechen oder darüber, wie es in anderen Teilen der Welt mit Diabetes ist . -

Länger, größer, besser, weiter?


Habt ihr manchmal auch das Gefühl, dass manche aus dem Leben mit Diabetes einen Wettbewerb zu machen scheinen? Vielleicht passiert dies nicht bewusst, aber trotzdem scheint es zu passieren. Ellbogen raus und los! Wer lebt am längsten mit der Diagnose, wer hat am meisten Erfahrung und wessen Erfahrung ist am wichtigsten? Wer hat die meisten Pumpen getestet, wer hat die meisten Sensoren am Körper getragen? Wer hat am aller-, allermeisten Recht? 

Ich frage mich: Was bringt es diesen Menschen? Fühlen sie sich dadurch besser? Stehen sie eine Stufe über allen anderen? Hat der Diabetes von einzelnen Personen dadurch mehr Wert als der von anderen?

Irgendwie skurril, oder? Irgendwie auch sehr problematisch. Denn Diabetes ist kein Wettbewerb!
Ich wiederhole mich mit dieser Aussage: wir sind alle individuell anders. Kein Körper ist der selbe, kein Alltag gleicht sich zu 100%, keine Geschichte ist eins zu eins wie die nächste. Aber ich wiederhole mich auch nur, weil es noch nicht bis zur letzten Person durchgedrungen zu sein scheint.

Ich lebe nun bald 29 Jahre auf diesem Planeten und "erst" seit 2013 mit der Diagnose Diabetes. Ich kann logischerweise gar nicht genau so lange Erfahrungen mit Diabetes gesammelt haben, wie eine Person, die seit beispielsweise 1980 mit Diabetes lebt. Erstens war ich 1980 noch gar nicht geboren und zweitens habe ich eben erst seit 2013 (vielleicht 2012) tatsächlich Diabetes Typ 1. Auch werde ich zum Beispiel nie am eigenen Leib erfahren können wie es ist, als Kind oder Teenager mit Diabetes zu leben.


Andere Erfahrungen


Meine Expertise im Bereich Diabetes ist also eine andere als deine, aber deswegen nicht weniger wert oder schlechter. Das heißt, dass ich bestimmte Therapieformen nie selbst anwenden musste, weil diese im Jahr 2013 längst überholt waren. Es bedeutet auch, dass ich zum Beispiel eine große Reihe von Messgeräten, Pumpen oder Pens nie selbst nutzen konnte, weil diese schlichtweg schon vom Markt genommen oder nicht mehr zeitgemäß waren, als ich meine Diagnose bekommen habe. Mein erstes Messgerät war in jenem Jahr eben auf dem Markt. Und ja, 2014 habe ich bereits zum ersten Mal einen Sensor getragen und auch das hat keinen schlechteren Menschen mit Diabetes aus mir gemacht.

Meine Erfahrungen mit Diabetes sind nicht weniger wert oder schlechter zu bewerten als die der Person, die seit fast 40 Jahren Diabetes hat. Es sind ganz einfach einfach andere Erfahrungen. Trotzdem habe ich genau so Diabetes wie die andere Person. Sätze wie "Die müssen ja heute nach ihrer Diagnose nichts mehr wissen!" stimmen schlichtweg nicht und machen bestimmte Erfahrungen mit Diabetes klein.

Genauso sind deine Erfahrungen mit Diabetes nicht besser oder schlechter, weil du vielleicht einen Typ 2 Diabetes hast oder seit 15 Jahren eine Pumpe trägst. Du hast lediglich andere Erfahrungen als ich oder wer anders.

Zuhören, verstehen, lernen


Ich bin große Verfechterin davon, sich gegenseitig zuzuhören, was mitzunehmen und daraus für sich zu lernen. Das funktioniert allerdings in zwei Richtungen und nur, wenn die jeweiligen Erfahrungen nicht klein gemacht werden. Wir müssen sowohl der älteren Generation der Menschen mit Diabetes zuhören, dürfen aber die neueren Generationen und deren Zukunft nicht vergessen. Und niemals, niemals dürfen wir die Erfahrungen der anderen klein reden oder abwerten!

Ja, ich wiederhole mich. Aber in der Schule habe ich damals gelernt, dass man durch Wiederholung lernt und ich habe Hoffnung, dass das auch bei diesem Thema funktioniert und endlich alle mal durchatmen und die Ellbogen einfahren.

Für junge Menschen mit Diabetes sind in Zukunft vielleicht andere Themen relevanter als noch vor 20 Jahren oder vor zehn. Und das ist okay. Vermutlich hat eine Person, die erst morgen mit Typ 1 Diabetes diagnostiziert wird andere Bedürfnisse und wird wieder andere Erfahrungen machen als ich oder ihr da draußen. Diese sind aber genau so wertvoll wie meine eigenen oder eure. Wir können nur voneinander lernen, wenn wir unsere Lebensrealitäten zumindest versuchen zu verstehen, und nicht unsere Annahmen auf andere projizieren.


Wir stehen alle auf gleicher Stufe


Hallo ihr Menschen, die schon viele Jahre mit Diabetes leben: Hört bitte auf, anderen Menschen Erfahrungen abzusprechen, nur weil ihre Diagnose frischer ist als eure, weil sie 'ne andere Therapieform nutzen oder bestimmte Geräte (nicht) an ihrem Körper hängen. Es gibt keinen Grund, so zu handeln. Eure Erfahrungen machen euch nicht zu etwas Besserem. Hört bitte auf, die Bedürfnisse oder Wünsche von anderen klein zu reden und abzuwerten. Hört stattdessen mehr zu und stellt auch mal Fragen.

Hallo ihr Menschen, die noch nicht so lange Diabetes haben: hört bitte auch denen zu, die schon länger mit Diabetes leben. Sagt ihnen: Wir sehen euch, Menschen mit 10, 20, 30, 40, 50, 60 oder sogar 70 Jahren Diabetes! Lasst uns gemeinsam aus ihren Geschichten und Erfahrungen lernen, und auch aus ihren Fehlern. 

Aber lasst uns dabei bitte immer respektvoll bleiben, und zwar auf beiden Seiten. Denn keine Erfahrung ist besser als die andere! Sagt es mit mir zusammen: Diabetes ist kein verdammter Wettbewerb!


Ich sitze dieses Wochenende an einigen anderen Texten, die schon lange in der Pipeline warten. Diese sollten alle in den nächsten Tagen und Wochen online gehen!

Bis dahin, habt noch ein tolles Wochenende!

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1 Kommentar:

  1. Hallo Tine,

    das Phänomen, das du beschreibst, beschäftigt und bedrückt mich auch schon seit Langem. Interessanterweise scheint es ein deutsches Phänomen zu sein, denn das Klima in der englischsprachigen (amerikanischen/internationalen) Community empfinde ich als viel respektvoller, freundlicher, toleranter und hilfsbereiter. Unabhängig davon, wie viel Zeit man schon seit seiner Diagnose hatte, um Erfahrungen zu sammeln, kann man sich in der deutschen (Facebook-)Community sicher sein, einen über den Deckel zu bekommen, wenn man von sich preisgibt, dem aktuell kursierenden Therapietrend (welchem auch immer), der geradezu kultartig propagiert wird, selbst nicht zu folgen. Aber so ist das eben, dann hat man halt auch keine respektvolle Antwort auf eine Frage zu einem möglicherweise völlig anderen Thema verdient.

    Ich könnte mich ewig darüber aufregen. Selbst meine Freunde ohne Diabetes kennen mittlerweile etliche Anekdoten zum respektlosen Umgang in deutschen Diabetes-Facebookgruppen, weil er mich so fassungslos macht, dass ich gern davon berichte.

    In der englischsprachigen Community wird oft ein "YDMV" (your diabetes may vary) ans Ende eines posts gesetzt, z.B. wenn man jemandem einen therapiebezogenen Rat gegeben hat. Diese Aussage mag verkürzt sein, aber ich finde sie sehr wahr und wichtig, und genau so etwas fehlt meines Erachtens im Umgang innerhalb der deutschen Community.

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