Es kann am Sommer liegen und daran, dass ich im Moment sehr viel mit den öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs bin, aber ich treffe in letzter Zeit immer und überall und ständig auf Menschen mit Diabetes. Meistens erkenne ich sie tatsächlich äußerlich daran, dass sie am Arm ganz sichtbar den gleichen Sensor tragen, der auch an meinem Arm klebt.
Anfang der Woche erst habe ich eine Frau in der S-Bahn gesehen, die den Sensor zwischen ihren Klitschko-Brüder-Tattoos platziert hatte. Sie las ein Buch und hat mich gar nicht bemerkt. Ich trage meinen Sensor meistens hinten am Arm, so dass er meinem Gegenüber oft auf den ersten Blick gar nicht auffällt. Ich habe versucht auf mich aufmerksam zu machen, indem ich meinen Wert überprüft habe, aber sie war so sehr in ihr Buch vertieft, dass ich sie eigentlich auch gar nicht stören wollte.
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Auf Leute mit Sensor zu gehen oder nicht? Wie seht ihr das? |
Letzte Woche, auch in der S-Bahn, ein junger Mann mit Fahrrad und Sensor. Wieder versuchte ich durch Überprüfen meines Wertes auf mich aufmerksam zu machen, er starrte aber permanent auf sein Smartphone und so bekam er meinen sehr vorsichtigen Kontaktversuch überhaupt gar nicht mit. Ich stieg aus, bevor er nur ein einziges Mal vom Display hoch blickte.
Aber wieso dieser Kontaktversuch?
Warum versuche ich permanent mit diesen Menschen Kontakt aufzunehmen? Eigentlich kann es mir doch völlig egal sein, wer wo wie seinen Sensor trägt und grade mit mir die S-Bahn teilt. Aber dann wäre ich jetzt nicht hier. Mit Menschen, die Diabetes haben, ins Gespräch zu kommen, kann sehr spannend und bereichernd für alle sein. Ich durfte das in meinen über drei Jahren mit Diabetes jetzt schon so unglaublich oft feststellen und ich kann euch nicht sagen, wo ich heute stehen würde, wenn ich bis dato noch niemand anderen mit Diabetes kennen gelernt hätte. Egal, ob es dabei nur bei einem kleinen, erheiternden Gespräch bleibt, ich Tipps für die Befestigung meines Sensors weitergeben oder bekommen kann oder aus dem Gespräch eine intensivere Bekanntschaft wird, das alles hilft, den Alltag mit Diabetes besser und motivierter zu meistern.
"Hier, das ist für Sie!"
Eine solche kleine Geschichte passierte mir auch letzte Woche bei einem meiner regelmäßigen Streifzüge durch die Secondhand-Läden Berlins. Ich hatte bereits einige Teile gefunden, die mir gefallen und die ich anprobieren wollte und wartete vor den Umkleidekabinen darauf, dass eine der Kabinen für mich frei werden würde. In einer Kabine war der Vorhang bereits aufgeschoben und eine ältere Dame sortierte sich darin. Ihr Zittern schrieb ich ihrem vorangeschrittenen Alter zu. Sie entfernte sich aus der Kabine, setzte sich auf den Sessel davor und teilte mir freundlich mit, dass die Umkleide nun frei wäre. Ich betrat die Kabine, zog den Vorhang zu und begann, meine Ausbeute anzuprobieren. "Könnten Sie mir vielleicht noch kurz helfen, junge Dame?", rief es von der anderen seite des Vorhangs. Ich lukte aus meiner Kabine zu der Frau auf dem Sessel vor mir, die zittrig versuchte, eine kleine Saft-Glasflasche zu öffnen. "Natürlich, gerne!", sagte ich und öffnete ihr schnurstraks die Flasche. Sie bedankte sich und meinte, sie sei seit 57 Jahren Typ-1-Diabetikerin und braucht das grade.
Ich ging schnell in die Kabine zurück und realisierte dann erst, was sie gerade gesagt hatte, streckte meinen Kopf hervor und meinte: "57 Jahre schon? Wirklich? Das ist eine lange Zeit!". Sie nickte euphorisch. Ich ging aus der Kabine und sie erzählte mir, dass sie die Diagnose bekam, als sie 20 Jahre alt war, wie das für sie war und dass sie immer auf sich geachtet hat. Dann meinte ich, dass ich seit drei Jahren auch Diabetes habe und sie sehr gut verstehen kann. "Tatsächlich? Was für ein Zufall!" Sie sagte mir, dass sie Kinder und inzwischen sogar Enkelkinder bekommen hat, dass sie oft versucht auf Nudeln und andere weiße Lebensmittel zu verzichten, weil der Blutzucker dann besser ist, und dass ich immer versuchen soll, ein aktives Leben zu führen. Zum Schluss sagte sie: "Wissen Sie, Schatz, wenn ich das so lange überlebt habe, dann können Sie das auch! Vergessen sie das nicht!". Ich nickte und verschwand wieder in der Umkleide.
Plötzlich kam eine ausgestreckte Hand in die Umkleide. "Hier, das ist für Sie, Schatz!", sagte die Frau. In ihrer Hand ganz viel Traubenzucker und kleine Süßigkeiten. Ich öffnete den Vorhang, nahm ihr kleines Geschenk an mich entgegen, bedankte mich sehr gerührt und wünschte ihr noch einen schönen Tag. Für solche Begegnungen lebe ich. Wie wunderbar, sowas sollte jedem passieren. Und genau aus diesem Grund denke ich jedes Mal nach, wenn ich den Leuten ansehe, dass sie Diabetes haben, ob ich sie ansprechen sollte oder nicht. Weil ganz wunderbare Dinge aufkommen können. Lasst euch solche Momente nicht entgehen, weil ihr euch nicht traut. Nehmt euren Mut zusammen und sprecht die Menschen drauf an. Und wenn sie scheiße reagieren, ist das leider so. Manche wollen einfach aus verschiedenen Gründen nicht drüber sprechen, dann müssen wir das respektieren. Aber wenn doch, können wirklich tolle motivierende Momente entstehen.
Ich wünschte, ich hätte mich getraut Kontaktdaten mit der Frau auszutauschen und vielleicht hätte ich die Möglichkeit bekommen, sie zu interviewen. 57 Jahre sind eine sehr lange Zeit und sie hat sicher spannende Geschichten zu erzählen. So bleibt mir am Ende nun allerdings nur dieser Moment übrig, den ich jetzt ganz tief in mir verwahrt habe.
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